BGH-Urteil zur Bedeutung der Stellungnahme von Betroffenen einer Verdachtsberichterstattung
Der BGH hat in seinem Urteil vom 16.11.2021 (Az. VI ZR 1241/20) die Voraussetzungen einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung aufgezeigt und insbesondere die Bedeutung einer vorherigen Stellungnahme durch den Betroffenen hervorgehoben. Bislang haben sich zahlreiche Medienverlage darauf berufen, den von einer Berichterstattung Betroffenen müsse nicht grundsätzlich eine Möglichkeit zur vorherigen Stellungnahme gegeben werden. Dieser journalistischen Nachlässigkeit hat der Bundesgerichtshof nun einen Regel vorgeschoben und die Wichtigkeit dieses Kriteriums einer zulässigen Verdachtsberichterstattung betont.
Hierdurch hat der BGH die aus unserer Sicht noch viel zu wenig berücksichtigten Persönlichkeitsrechte von Medienopfern gestärkt. In unserer medienrechtlichen Praxis erleben wir es leider viel zu oft, dass Gerichte das Kriterium der Möglichkeit zur Stellungnahme zu einem Verdacht einer Straftat nicht für wichtig genug erachten. Dies dürfte sich mit dieser Entscheidung nun ändern.
Was ist eine (identifizierende) Verdachtsberichterstattung?
Eine Verdachtsberichterstattung liegt immer dann vor, wenn über den verdächtigten „Täter“ einer Straftat durch die Medien berichtet wird, dieser jedoch noch nicht rechtskräftig verurteilt wurde. Eine das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzende identifizierende Verdachtsberichterstattung liegt dann vor, wenn eine Straftat mit einer bestimmten Person vor allem durch namentliche Nennung in der medialen Berichterstattung verbunden wird. Die durch die Berichterstattung hergestellte Verbindung zwischen der Tat und dem (vermeintlichen) „Täter“ kann dann die betroffene Person in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht insofern verletzen, als dass eine derartige Berichterstattung mit einem Unwerturteil und einer gesellschaftlichen Ächtung verbunden ist.
Wann ist eine Verdachtsberichterstattung zulässig?
Grundsätzlich sind an die identifizierende Verdachtsberichterstattung strenge Anforderungen zu stellen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass nach der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK eine Person grundsätzlich so lange als unschuldig gilt, bis ihr die Schuld nachgewiesen wurde.
Ob eine derartige Berichterstattung zulässig ist, hängt – wie so oft im Medienrecht – von einer Güterabwägung ab. Abgewogen werden müssen insofern die Interessen des Betroffenen und die Interessen des Berichtenden. Während sich die Presse auf die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verfassungsrechtlich verbürgte Pressefreiheit berufen kann, kann der durch die Berichterstattung Betroffene sich auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG berufen.
Welche Kriterien sind bei der Abwägung zu berücksichtigen?
Im sog. „Lebach-Urteil“ hat die Rechtsprechung zahlreiche Kriterien für die Abwägung aufgestellt:
Zunächst ist die schwere der Straftat von Bedeutung. Die Verdachtsberichterstattung ist dann eher zulässig, wenn es sich um schwere Straftaten wie Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) oder sexuelle Belästigung (§ 184i StGB) handelt. Sie ist eher unzulässig, wenn es sich um Bagatelldelikte handelt, über die berichtet wird.
Auch der Bekanntheitsgrad des Verdächtigen ist maßgeblich bei der Abwägung zu berücksichtigen. Handelt es sich um eine/n Politiker/in oder Promi (also eine Person des öffentlichen Lebens), so muss diese/r eine Berichterstattung eher hinnehmen, als eine unbekannte Person.
Insbesondere das Alter des Verdächtigen ist zu berücksichtigen. So sind insbesondere Verdachtsberichterstattungen über Jugendliche in aller Regel unzulässig.
Darüber hinaus sind die Stärke des Informationsinteresses der Allgemeinheit, die Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung und die Art und Intention der Darstellung (oberflächlich und einseitig oder seriös, ausgewogen und mit entlastenden Momenten) ebenfalls Abwägungskriterien.
Worum ging es in dem BGH-Urteil konkret?
Auf der Internetseite www.spiegel.de wurde am 28.07.2017 ein Artikel mit der Überschrift „Dieselskandal (-) Hochrangiger Ex-VW-Manager in Untersuchungshaft (-) Im Dieselskandal hat die Justiz offenbar W. H. im Original war der Namen vollständig wiedergegeben) verhaftet, einen engen Vertrauten des Ex-Vorstandschefs. […] Die US-Justiz hatte H[…] als möglichen ‚Mitverschwörer‘ bei Abgasmanipulationen verdächtigt.“ Im Anschluss wird ein unverpixeltes Porträtfoto des Klägers gezeigt.
Als Bildunterschrift wird der volle Name des Klägers aufgeführt. Der klagende Ex-VW-Mitarbeiter verlangte nunmehr von der Betreiberin der Webseite es zu unterlassen, weiterhin unter Angabe des vollständigen Namens und unter Verwendung seines Bildnisses identifizierend zu berichten. Entscheidend ist im vorliegenden Fall, dass die beklagte Webseitenbetreiberin keinerlei Bemühungen unternommen hat, in Betracht kommende Vertreter des Betroffenen zu ermitteln oder mit dem Betroffenen – etwa über dessen Familie, deren Anschrift der Beklagten bekannt war – in Kontakt zu treten.
Welche Rolle spielt die Stellungnahme durch den Betroffenen?
Dieses Vorgehen missbilligt der BGH in seinem Urteil. Neben einem Mindestbestand an Beweistatsachen, dem Verbot einer Vorverurteilung und der Interessenabwägung sei die Einholung einer Stellungnahme notwendig. An einer solchen fehlte es vorliegend. Nur durch eine Stellungnahme ist es dem Betroffenen im Sinne einer „Waffengleichheit“ auch möglich, seine Sicht der Dinge mitzuteilen.
Nur ausnahmsweise soll nach der Rechtsprechung eine vorherige Kontaktierung des Betroffenen entbehrlich sein, wenn dieser bereits im Vorfeld eindeutig zu erkennen gegeben hat, keine Stellung zu den in der Berichterstattung enthaltenen Vorwürfen vornehmen zu wollen oder sich bereits in einem bestimmten Sinne zu ihnen geäußert hat.
Auch ein bloßes Dementi von Relevanz für eine Berichterstattung
Der BGH gab zu verstehen, dass es nicht darauf ankommt, dass der Tatverdächtige, über den berichtet werden soll, konkret zu den einzelnen Vorwürfen Stellung bezieht. Vielmehr misst der BGH selbst einem bloßen Dementi eine grundsätzliche Bedeutung bei, wenn es darum geht, ausgewogen über den Verdacht einer Straftat zu berichten.
So führt der BGH in seiner Entscheidung wie folgt aus:
Der Standpunkt des Betroffenen ist dabei für den Leser nicht nur dann relevant, wenn sich die Stellungnahme konkret zu den geäußerten Verdachtsmomenten verhält, sich der Beschuldigte vom Verdacht „entlasten“ kann. Auch die Information über ein bloßes Dementi ist grundsätzlich geeignet, der Gefahr einer Vorverurteilung des Betroffenen zu begegnen. Wird – wie vorliegend – über ein laufendes Ermittlungsverfahren berichtet, wird es die notwendige publizistische Sorgfalt daher regelmäßig gebieten, der Gefahr, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt, auch durch das Sichtbarmachen einer pauschalen Zurückweisung der Vorwürfe seitens des Beschuldigten entgegenzuwirken, wobei es der Presse freigestellt ist, auf welche Weise dies geschieht (so im Ergebnis auch Korte, Praxis des Presserechts, 2. Aufl., § 2 Rn. 249). Der Senat teilt insoweit nicht die Auffassung der Revision, der durchschnittliche Rezipient gehe ohnehin davon aus, dass der Betroffene den Tatvorwurf bestreite, solange nichts Gegenteiliges mitgeteilt werde.
Stellungnahmemöglichkeit grundsätzlich auch für Inhaftierte Tatverdächtige
Eine weitere Besonderheit dieses Urteils liegt auch darin, dass der BGH klargestellt hat, dass die journalistischen Sorgfaltspflichten es auch erfordern, dass alles zur Wahrheitsfindung Mögliche getan wird und hierzu auch gehört, dass die Medien vor einer Verdachtsberichterstattung versuchen, eine Stellungnahme durch einen in Haft befindlichen Verdächtigen zu erlangen.
Der BGH führt hierzu wie folgt aus:
Die Beklagte durfte entgegen der Auffassung der Revision auch nicht deshalb von der Einholung einer Stellungnahme des Klägers absehen, weil der Kläger inhaftiert und der Beklagten die Person des Strafverteidigers oder Medienrechtsanwalts des Klägers nicht bekannt war. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass diese Umstände auch unter Berücksichtigung der für die Beklagte streitenden Grundrechtspositionen die Kontaktaufnahme nicht entbehrlich machten.
Der Spiegel hat innerhalb des Verfahrens nach Auffassung des BGH nicht hinreichend dargelegt, ob und welche Bemühungen erfolgt sind, Kontakt zu dem Betroffenen aufzunehmen, etwa über Angehörige des Verdächtigen.
Fazit der BGH-Entscheidung
Der BGH hat insbesondere verdeutlicht, welche Bedeutung die Einholung einer Stellungnahme des Betroffenen vor einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung hat und dass Ausnahmen hiervon nur in besonderes engen Grenzen möglich sind. Die Entscheidung ist sehr zu begrüßen, da sie die noch zu wenig geschützten Persönlichkeitsrechte von Medienopfern stärkt und den Medien wichtige Grenzen aufzeigt.
Sind auch Sie von einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung betroffen, nehmen Sie Kontakt zu uns auf. Unser Team aus spezialisierten Fachanwälten, Rechtsanwälten und Jurist*innen verfügt über jahrelange Erfahrung bei der Durchsetzung von Ansprüchen wegen unzulässiger Verdachtsberichterstattung und hat hier bereits Hunderte Gerichtsverfahren gegen alle großen Medienhäuser geführt. Hierbei konnten wir zahlreiche Erfolge für unsere Mandanten verzeichnen.
Unserer Gegnerliste können Sie entnehmen, gegen welche Medien wir bereits vorgegangen sind.
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