Sieg für das Persönlichkeitsrecht: Grünen-Politikerin Renate Künast gewinnt in Medienrechtssache vor obersten deutschem Gericht
Der Fall von GRÜNEN-Politikerin Renate Künast beschäftigt die deutschen Gerichte schon seit etlichen Jahren. Nach dem Landgericht Berlin und dem Kammergericht Berlin hatte sich nunmehr das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit dem Fall „Renate Künast“ zu beschäftigen und erteilte sowohl dem Landgericht als auch dem Kammergericht eine juristische Ohrfeige (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021, – 1 BvR 1073/20). Ein Sieg für das Persönlichkeitsrecht!
Was war geschehen?
Die juristische Auseinandersetzung um Renate Künast begann 2015 mit der Debatte um die Haltung der Partei DIE GRÜNEN zu der Pädophilie in den 1980er Jahren. Auslöser war der Bericht über einen Zwischenruf von Renate Künast im Berliner Abgeordnetenhaus am 29.05.1986.
Während einer Rede über häusliche Gewalt stellte ein anwesender Politiker die Frage, wie die Rednerin zu dem Beschluss der Grünen in NRW stehe, nachdem die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden sollte. Renate Künast antwortet auf diese Frage mit dem Zwischenruf „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20).
Ein Blog-Betreiber eines Internetblogs stellte 2016 ein Bild von Renate Künast ein und schrieb darunter:
„Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“ Daraufhin nimmt Renate Künast den Blog-Betreiber zivilrechtlich auf Unterlassung und Schmerzensgeld in Anspruch.
Daraufhin veröffentlichte der beklagte Blogbetreiber 2019 auf Facebook einen Post folgenden Inhalts:
„Wegen genau dieses Postings zerrt mich (Renate Künast) und ihre Anwaltskanzlei vor Gericht. Deren Anwälte wollen erst mal 15.000 € angebliches Schmerzensgeld, obwohl der Prozess vor dem Amtsgericht in Halle noch nicht mal begonnen hat. Selbst die WELT hat über ihre skandalösen Äußerungen berichtet! Auf Blog verlinkt“ (vgl. Darstellung in: BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 5).
Unter diesen Post wurde fleißig – häufig anonym – von der Facebook Community kommentiert. Darunter befanden sich auch 22 Kommentare à la „K(…) sie doch mal einer so richtig durch, bis sie wieder normal wird!“, „Pädophilen-Trulla“, „schlampe“, „Kranke Frau“ und „Diese hohle Nuß gehört entsorgt, aufe Mülldeponie aber man darf ja dort keinen Sondermüll entsorgen“ u.ä. (vgl. Aufzählung in BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 7).
Um gegen die Kommentatoren/Kommentatorinnen vorzugehen, verklagte Renate Künast gestützt auf § 14 Abs. 2 TMG a.F. (nunmehr § 21 Abs. 2 und 3 TTDSG) die Plattform Facebook auf Auskunft der Bestandsdaten über die Nutzer, welche hinter den Kommentaren standen.
Wie urteilte das LG Berlin und das KG Berlin?
Das Landgericht Berlin (Beschl. v. 09.09.2019 – 27 AR 17/19 und Beschl. v. 21.01.2020 – 27 AR 17/19) und das Kammergericht Berlin (Beschl. v. 11.03.2020 – 10 W 13/20 und Beschl. v. 06.04.2020 – 10 W 13/20) lehnten weitestgehend das Auskunftsbegehren von Renate Künast ab.
Beide Instanzen erkannten zwar, dass grundsätzlich die betroffenen Grundrechte (Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht) gegeneinander abzuwägen sind.
Eine Abwägung im Einzelfall nahmen sowohl das LG Berlin als auch das KG Berlin nicht vor. Vielmehr stützten sich die Gerichte darauf, dass an die sog. Schmähkritik (welche nicht mehr unter die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG fällt) hohe Anforderungen zu stellen sind und diese vorliegend nicht gegeben seien. Zudem stellten die Gerichte fest, dass eine Beleidigung iSv § 185 StGB dann nicht gegeben sein kann, wenn es sich eben nicht um eine Schmähkritik im o.g. Sinne handelt.
Entscheidung des BVerfG
Insoweit, als das LG Berlin und das KG Berlin das Auskunftsbegehren ablehnen, wehr sich Frau Künast im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG iVm §§ 13 Nr. 8a, 93 ff. BVerfGG) vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und rügt eine Verletzung ihres Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG.
Sie hat Erfolg. Das BVerfG ist dabei der Ansicht, dass die Fachgerichte bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts (hier §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB iVm § 185 StGB) die Bedeutung und Tragweite des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei ihrer Entscheidungsfindung verkannt haben. Die Ablehnung der Bestandsdatenauskunft verletze Renate Künast in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Infolgedessen wurde die Sache zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen.
Maßgeblich: Abwägung zwischen Grundrechten
Für die richterliche Anordnung der Bestandsdatenauskunft nach § 14 Abs. 2 und 3 TMG a.F. iVm § 1 Abs. 3 NetzDG war es notwendig, dass die Kommentare einen rechtswidrigen Inhalt – z.B. eine Beleidigung iSv § 185 StGB – darstellen. „Beleidigung“ meint dabei die Kundgabe der Miss- und Nichtachtung in ehrverletzender Art und Weise. Im Lichte der Bedeutung der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) müssen an das Vorliegen einer strafbewehrten Beleidigung iSv § 185 StGB hohe Anforderungen gestellt werden.
Zudem findet die Meinungsfreiheit auch in § 193 StGB Berücksichtigung, nach dem Äußerungen straflos bleiben, wenn sie zur Wahrung berechtigter Interessen vorgenommen werden. Um die kollidierenden Grundrechte in Einklang zu bringen, bedarf es stets einer Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 27).
Keine Abwägung bei Schmähkritik
Ausnahmsweise bedarf es jedoch im Einzelfall keine Abwägung. Dies ist insbesondere der Fall bei Formalbeleidigungen, Angriffen auf die Menschenwürde oder bei Schmähkritik.
„Schmähkritik“ liegt dann vor, wenn „eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 29).
Zur Feststellung der Schmähkritik sei es erforderlich, dass eine „umfassende Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte“ stattfindet, wobei zu den hier zu berücksichtigenden Umständen […] insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 30; so schon BVerfG, Beschl. v. 19.05.2020 – 1 BvR 2397/19, Rn. 27).
Kritik an Machtausübung muss möglich sein
In seiner Entscheidung macht das BVerfG zudem deutlich, dass „der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist“ und „Teil dieser Freiheit ist, dass Bürgerinnen und Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträgerinnen und Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 32).
Damit stellt das BVerfG durchaus klar, dass der Meinungsfreiheit gerade im Rahmen der Kritik von Amtsträger*innen (eine solche ist Renate Künast als Mitglied des Bundestages) besonderes Gewicht zukommt.
Grenzen der Kritik an Politiker*innen weiter
Daraus ist zu schlossfolgern, dass die Grenzen der Kritik an Politiker*innen als Amtsträger*innen und Personen des öffentlichen Lebens weiter sind, als wenn beispielsweise Privatpersonen von einer Äußerung betroffen sind.
„In die Abwägung ist daher einzustellen, ob die Privatsphäre der Betroffenen oder ihr öffentliches Wirken mit seinen (...) gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität der Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 32).
Dies bedeutet aber auch, dass Personen des öffentlichen Lebens allgemein und stets stärkere Kritik zu ertragen haben. Vielmehr kommt es darauf an, ob die betroffene Person in ihrer Privatsphäre oder in ihrem öffentlichen Auftreten betroffen ist.
Form und Begleitumstände maßgeblich
Zudem ist nach Ansicht des BVerfG für die Beurteilung und Abwägung mit Blick auf die Form und die Begleitumstände einer Äußerung erheblich, ob die Äußerung „ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 36).
Verbreitung und Wirkung der Äußerung
Als weiteres Kriterium im Rahmen der Abwägung sind der Grad und die Reichweite der Verbreitung sowie die Wirkung der Äußerung zu nennen.
So führt das BVerfG aus:
„Maßgeblich hierfür sind die Form und Begleitumstände der Kommunikation. Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftliche oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall.
Demgegenüber ist die beeinträchtigende Wirkung einer Äußerung beispielsweise gesteigert, wenn sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird.
Ein solches die ehrbeeinträchtigende Wirkung einer Äußerung verstärkendes Medium kann insbesondere das Internet sein, wobei hier nicht allgemein auf das Medium als solches, sondern auf die konkrete Breitenwirkung abzustellen ist“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 37).
Beleidigung iSv § 185 StGB liegt nicht nur bei Schmähkritik vor
Eine Abwägung unter Berücksichtigung der oben genannten Abwägungskriterien und Umstände haben das Landgericht Berlin und das Kammergericht Berlin für die streitgegenständlichen Äußerungen nicht vorgenommen.
Dies liegt vor allem daran, dass die Fachgerichte fälschlich davon ausgegangen sind, dass eine strafbare Beleidigung iSv § 185 StGB und damit die für den Auskunftsanspruch für Nutzerbestandsdaten nach § 14 Abs. 3 TMG a.F. erforderliche Katalogstraftat nicht vorliegt, wenn auch keine Schmähkritik vorliegt.
Damit haben die Fachgerichte die Beleidigung iSv § 185 StGB mit dem Begriff der „Schmähkritik“ gleichgesetzt und deshalb eine Abwägung nicht vorgenommen.
Das BVerfG beschreibt dieses Vorgehen insoweit als „fehlerhafte Maßstabsbildung“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 46)
Abwägung bei Personen des öffentlichen Lebens nicht stets entbehrlich
Zudem nahmen die Fachgerichte unter anderem deshalb keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht vor, weil es sich bei der Politikerin Renate Künast um eine Person des öffentlichen Lebens handle, die sich als solche freiwillig in die Öffentlichkeit begeben habe, sich Kritik in besonderer Weise aussetzt und diese deshalb zu einem höheren Grad ertragen muss, als eine Privatperson.
So führt das BVerG hierzu aus:
„Infolge fehlerhafter Maßstabsbildung mangelt es ebenfalls an der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung der betroffenen Rechtspositionen im Rahmen der rechtlichen Würdigung der verfahrensgegenständlichen Äußerung „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“. Die vom Fachgericht begründungslos verwendete Behauptung, die Beschwerdeführerin müsse den Angriff als Politikerin im öffentlichen Meinungskampf hinnehmen, ersetzt die erforderliche Abwägung nicht, bei der auch zu berücksichtigen wäre, dass ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern auch im öffentlichen Interesse liegt. ( BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 47).
Durch das Ausbleiben einer Abwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, haben die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB, 185 StGB die Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts von Renate Künast nicht hinreichend beachtet.
Fazit
Der Begriff der „Beleidigung“ und der „Schmähkritik“ ist nicht gleichzusetzen. Voraussetzung für eine Beleidigung ist damit nicht zwingend das Vorliegen einer „Schmähkritik“.
Bei einer Schmähkritik bedarf es regelmäßig keiner Abwägung. Zur Beurteilung, ob überhaupt Schmähkritik vorliegt, sind jedoch alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.
Der pauschale Verweis darauf, dass sich eine Person des öffentlichen Lebens ein höheres Maß an Kritik gefalle lassen muss und eine Abwägung im Einzelfall damit entbehrlich ist, verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht.
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