BVerfG: Xavier Naidoo darf als „Antisemit“ bezeichnet werden
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden: Xavier Naidoo darf Antisemit genannt werden. Das BVerfG hatte in seiner Entscheidung vom 11.11.2021 (Az.: 1 BvR 11/20) darüber zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bezeichnung „Antisemit“ eine zulässige Meinungsäußerung i.S.v. Art. 5 I S. 1 GG darstellt. Während der bekannte Sänger Xavier Naidoo sich gegen diese Äußerung vor den Fachgerichten in erster und zweiter Instanz erfolgreich zur Wehr setzen konnte, entschied hingegen das BVerfG, dass die Aussage von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
Was war passiert?
Bei einem Vortrag im Sommer 2017 zu dem Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“ äußerte sich die Fachreferentin (spätere Beklagte und Beschwerdeführerin) auf eine Nachfrage aus dem Publikum, wie sie den bekannten Sänger Xavier Naidoo (späterer Kläger und Beschwerdegegner) in diesem Kontext einstufe wie folgt:
„Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaube ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“
Nunmehr machte Xavier Naidoo vor den Zivilgerichten einen Anspruch auf Unterlassung (§§ 823 I, 1004 I S. 2 BGB i.V.m. Art. 2 I, 1 I GG) solcher Äußerungen durch die Fachreferentin und die Erstattung von Rechtsanwaltskosten geltend.
Was haben die Fachgerichte entschieden?
Das Landgericht Regensburg (Urt. v. 17.7.2018 – 62 O 1925/17) und das Oberlandesgericht Nürnberg (Urt. v. 22.10.2019 – 3 U 1523/18) gaben dem Sänger Recht.
Bei der im Rahmen der rechtlichen Prüfung anzustellenden Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit (Art. 5 I S. 1 GG) der Referentin und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I, 1 I GG) von Xavier Naidoo gewichteten das LG Regensburg und das OLG Nürnberg das allgemeine Persönlichkeitsrecht schwerer als die Meinungsfreiheit. Den Entscheidungen des Land- und des Oberlandesgerichts lagen folgende Erwägungen zu Grunde:
Bezeichnung als „Antisemit“ ist zweideutig
Nach der sog. Stolpe-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 25.10.2005 – 1 BvR 1696/98 = BVerfGE 114, 339) gilt:
„Seien mehrere sich nicht gegenseitig ausschließende Deutungen des Inhalts einer Äußerung möglich, so sei der rechtlichen Beurteilung diejenige zu Grunde zu legen, die dem auf Unterlassung in Anspruch Genommenen günstiger ist und den Betroffenen weniger beeinträchtigt“.
Mit anderen Worten: Bei mehrdeutigen Äußerungen ist diejenige Auslegung zu wählen, die der Meinungsfreiheit am zuträglichsten ist und damit in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen am intensivsten eingreift. Hierdurch wird der Bedeutung der Meinungsfreiheit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung Geltung verschafft.
Hierzu führt das OLG Nürnberg im konkreten Fall (OLG Nürnberg, Urt. v. 22.10.2019 – 3 U 1523/18 = ZUM-RD 2020, 274) aus:
„Als »Antisemit« kann […] nach einem weiten Begriffsverständnis jeder bezeichnet werden, der eine wie auch immer geartete negative Wahrnehmung von Juden hat […]. Bei einem – ebenso vertretenen – engen Verständnis ist »Antisemitismus« gleichbedeutend mit »Judenhass«“.
Weiter heißt es:
„Er (Anm.: Herr N.) ist Antisemit. […] Aber das ist strukturell nachweisbar“ weist mehrere nicht fernliegende Deutungsvarianten auf. Im Rahmen des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs ist der rechtlichen Bewertung die für den Kläger [Anm.: Xavier Naidoo] am meisten belastende Deutung zugrunde zu legen, nämlich, dass es objektive Beweise dafür gibt, dass der Kläger ein Antisemit im engeren Sinne ist.“
Persönlichkeitsrechtsverletzung wiege hier besonders schwer
Die Fachgerichte sind sodann der Rechtsauffassung, dass eine Persönlichkeitsrechtsverletzung besonders schwer wiege, wenn die betroffene Person von der Interaktion mit dem Publikum abhängig ist (so z.B. bei Sängern). So führt das OLG Nürnberg aus:
„Dieser Eingriff ist seiner Art nach besonders schwerwiegend und wie kaum ein anderer Vorwurf geeignet, den mit dieser Geisteshaltung in Verbindung Gebrachten in den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen. Dies gilt insbesondere bei einem Sänger, der zum einen von der Interaktion mit dem Publikum abhängig ist und zum anderen in besonderem Maß im Licht der Öffentlichkeit steht.“
Diese Argumentation vermag schon deshalb zu verwundern, weil nach der sog. „Sphärentheorie“ des BVerfG gerade in der Öffentlichkeit stehende Personen aufgrund des freiwilligen Entschlusses nach außen öffentlich aufzutreten, häufig nur in ihrer sog. Sozialsphäre betroffen und damit idR weniger schutzwürdig sind. Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sind infolgedessen leichter zu rechtfertigen.
Ferner argumentieren die Fachgerichte, dass gerade die die Aussage „Aber das ist strukturell nachweisbar“ zu einer besonders schwerwiegenden Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts führt. Die damit verbundene Stigmatisierung würde dadurch potenziert, dass die Beklagte vorgibt, es sei strukturell nachweisbar, dass es sich bei dem Kläger um einen Antisemiten handelt. Denn dabei würde – zumindest bei einem Teil der angesprochenen Verkehrskreise – der Eindruck erweckt, dass es sich bei der Einschätzung nicht nur um eine persönliche Bewertung der Beklagten, sondern vielmehr um eine objektive Tatsache handle, die dem Beweis zugänglich ist (vgl. OLG Nürnberg, ZUM-RD 2020, 274, 283).
BVerfG: Xavier Naidoo darf Antisemit genannt werden
Anderer Rechtsauffassung ist hingegen das Bundesverfassungsgericht. Dieses entschied zugunsten der Fachreferentin (Beschwerdeführerin), dass die getätigten Aussagen noch unter die Meinungsfreiheit fallen und Xavier Naidoo nicht in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I, 1 I GG verletzt ist. Dies hätten die Fachgerichte verkannt.
Fachgerichte nahmen keine Sinndeutung vor
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Sinndeutung der streitgegenständlichen Äußerungen notwendig. Eine solche fand durch die Fachgerichte nicht statt. Das Bundesverfassungsgericht führt wie folgt aus:
„Sie [die Fachgerichte] verkennen im Ergebnis die Voraussetzungen einer der verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Sinnermittlung, die vom Wortlaut der Äußerung ausgeht und Kontext und Begleitumstände berücksichtigt“.
Das OLG habe sich lediglich abstrakt mit verschiedenen Definitionsansätzen für Antisemitismus, nicht jedoch mit einer Auslegung im konkreten Fall unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Kontextes befasst (BVerfG, Beschl. v. 11.11.2021 – 1BvR 11/20 = BeckRS 2021, 39670 Rn. 19). So hätte insbesondere berücksichtigt werden müssen, dass „die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage erörtert – namentlich ob der Kläger als bekannter Sänger in seinen Liedtexten und durch seine Äußerungen antisemitische Klischees und Ressentiments bedient“ (BVerfG, BeckRS 2021, 39670 Rn. 22).
Aussage „Antisemit“ sei nicht zweideutig
Zudem sei eine Anwendung der Stolpe-Rechtsprechung (s.o.) in konkreten Fall nicht notwendig. Bei der Bezeichnung als „Antisemit“ gibt es nur eine Deutungsweise. Die Aussage sei „indes unzweideutig dahingehend zu verstehen, die Beschwerdeführerin halte den Kläger des Ausgangsverfahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage.“ (BVerfG, BeckRS 2021, 39670 Rn. 20).
Fehlende Nachweisbarkeit sei vorliegend unerheblich
Auch, dass die Aussage „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ durch die Beschwerdeführerin nicht nachgewiesen werden kann, kann nicht zu ihren Lasten gehen. Vorliegend käme es auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises nämlich gar nicht an, da es sich bei der Äußerung nicht um eine Tatsachenbehauptung handle, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut.
Wer Anlass zur Kritik gibt, sei weniger schutzwürdig
Das Bundesverfassungsgericht missbilligt insbesondere das Vorgehen der Fachgerichte, nach denen alleine der Umstand, dass der Beklagte von der Interaktion mit dem Publikum abhängig ist, im Rahmen der notwendigen Abwägung noch nicht dazu führt, dass die Persönlichkeitsrechtsverletzung schwerer wiegt.
So müsse insbesondere derjenige, der im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion und Kritik auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert. Vorliegend hatte Xavier Naidoo Kritik dadurch veranlasst, dass er durch entsprechende öffentliche Auftritte und Liedtexte sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben hat.
So heißt es in einem Liedtext („Marionetten“) aus dem Jahr 2019: „[…] ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“. Zudem hielt Xavier Naidoo im Jahr 2014 eine Rede bei einer Versammlung der sog. „Reichsbürger“ vor dem Reichstag. Die Annahmen und Ausführungen der Fachgerichte würden dazu führen, dass aufgrund des Bestrebens nach öffentlicher Aufmerksamkeit eine Kritik unmöglich gemacht würde (vgl. BeckRS 2021, 39670 Rn. 23).
BVerfG: Gesellschaftliches Interesse am Thema erlaubt scharfe Kritik
Schließlich stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen die Äußerungen entsprechend schärfer und kritischer sein dürfen (BVerfG, BeckRS 2021, 39670 Rn. 18; so bereits BVerfGE 54, 129, 138; vgl. ebenfalls BVerfGE 68, 226, 231 f.). Dies treffe insbesondere auf die gesellschaftlich hoch umstrittene Bewegung der Reichsbürger zu (vgl. BVerfG, BeckRS 2021, 39670 Rn. 22).
Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis
Für die Praxis bedeutet dies einmal mehr, dass wie immer im Presse- und Äußerungsrecht eine umfassende Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen vorzunehmen ist. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, welche Position die betroffene Person in der Öffentlichkeit einnimmt und ob diese durch vorangegangenes Verhalten Anlass zur Kritik gegeben hat. Aufgrund des gesellschaftlichen Interesses an der Thematik der Reichsbürger ist im Rahmen einer fachlichen Auseinandersetzung scharfe Kritik grundsätzlich möglich.
Fazit zu der BVerfG-Entscheidung
Bei Äußerungen, die ein Thema von besonderem gesellschaftlichem Interesse betreffen, sind besonders scharfe Äußerungen zulässig. Die Verletzung des Persönlichkeitsrechts wiegt idR nicht so schwer, wenn die betroffene Person im öffentlichen Meinungskampf zu abwertenden Urteilen Anlass gegeben hat (zB durch entsprechende Äußerungen, Interviews oder Songtexte). Im Ergebnis stellt die Entscheidung zwar einen Schlag gegen das Persönlichkeitsrecht dar, vertretbar ist sie jedoch durchaus.
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